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Pressemitteilung 37-2023: Große Trauer um Inge Stanton


Mit ihr verstarb eine der letzten Zeitzeuginnen der NS-Zeit in Lichtenfels / Landrat Meißner: „Wir sind dankbar, dass sie unserem Landkreis die Hand gereicht hat“
 

LICHTENFELS (08.02.2023). „Sie war eine beeindruckende Persönlichkeit, die trotz des unfassbaren Unrechts und Leids, das ihr und ihrer Familie widerfahren ist, die Güte hatte zu verzeihen. Ich bin sehr, sehr dankbar, dass ich sie im Rahmen des Projekts ‚13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale‘ kennenlernen durfte und dass sie unserem Landkreis die Hand gereicht hat“, so Landrat Christian Meißner anlässlich des Tods von Inge Stanton, geborene Marx. Sie ist in der Nacht zum Dienstag kurz nach ihrem 93. Geburtstag in den USA verstorben. 

Inge Stanton stammt ursprünglich aus Lichtenfels und ist mit ihrer Familie in Folge der NS-Pogrome und der Verfolgung jüdischer Bürgerinnen und Bürger während des Dritten Reichs in die USA ausgewandert. Sie ist eine der letzten Zeitzeuginnen der Nazi-Diktatur in unserer Region.

Sie wurde 1930 in Lichtenfels geboren. Ihre Eltern waren der jüdische Kaufmann Alfred Marx und dessen Frau Ellen, geb. Bamberger. Die Familie Marx betrieb ein Handelsgeschäft für Felle, Pelze und für Metzgereibedarf in der sog. Guthmann-Villa in der Bamberger Straße 19. 

Inge Stanton, die sich bis zuletzt ein glasklares moralisches Urteil bewahrt hat, berichtete von schönen Aspekten ihrer Kindheit wie auch von zunehmender Diskriminierung und Übergriffen durch Nazi-Behörden und Nazi-Anhänger. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 überfielen NS-Horden das Familien-Anwesen. Die Kinder mussten sich im Dachboden des Hauses unter dem Schutz einer nichtjüdischen Mieterfamilie vor den gewalttätigen, marodierenden Nazi-Anhängern verstecken. Inge als älteste mit ihren acht Jahren musste die anderen Kinder ruhig halten.

Es gelang der Familie 1939 aus Deutschland zunächst nach Großbritannien und im April 1940 in die USA zu fliehen, wo sie sich unter großen Mühen eine neue Existenz aufbauen konnten. Bereits 1994 und 2016 hatte Inge mit ihrer Familie Lichtenfels besucht. Anlass für eine echte Heimkehr war dann das Projekt „13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale“ des Meranier-Gymnasiums im Jahr 2018, das in enger Zusammenarbeit mit dem Landratsamt Lichtenfels initiiert wurde.

Im Rahmen des Projekt-Seminars „13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale“ hatten sich die Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgangs 2018/19 mit Seminarleiter Studiendirektor Manfred Brösamle-Lambrecht auf Spurensuche nach den jüdischen Bürgerinnen und Bürger begeben, denen während des Dritten Reichs die Führerscheine abgenommen wurden. 

Beim Festakt zur Erцffnung der Ausstellung „13 Fьhrerscheine – dreizehn jьdische Schicksale“ am Meranier-Gymnasium Lichtenfels ьbergab Landrat C

Beim Festakt zur Eröffnung der Ausstellung „13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale“ am Meranier-Gymnasium Lichtenfels übergab Landrat Christian Meißner Inge Stanton (Mitte) die Dokumente, die man ihrem Vater abgenommen hatte. Weiter im Bild links Enkelin Ellie sowie die Töchter Suzanne und Nancy. Foto: Landratsamt Lichtenfels/Heidi Bauer

Unter den Dokumenten, die im Landratsamt Lichtgenfels gefunden worden waren, war auch der Führerschein von Inges Vater Alfred Marx. Die Schülerinnen machten die Familie in den USA ausfindig, und Inge Stanton half mit einer Fülle von Materialien und genauem Erinnerungsvermögen bereitwillig bei der Rekonstruktion der Familiengeschichte. 

Im November 2018 kam sie, 88 Jahre alt, mit Familienmitgliedern zur Ausstellungseröffnung „13 Führerscheine. Dreizehn jüdische Schicksale“ und zur Verlegung von Stolpersteinen nach Lichtenfels. Sie hielt dort eine beeindruckende Rede, in der sie einerseits das Geschehene nicht relativierte und andererseits die Bereitschaft zu einem Miteinander angesichts eines gewandelten Deutschlands bekundete. Und sie praktizierte das auch: Die Verbindung, ja Freundschaft mit vielen Seminarteilnehmern und -teilnehmerinnen riss bis zu ihrem Tode nicht ab.

Rachel Schlesinger, Inges Enkelin, drehte einen Kurzfilm über Inges ersten Besuch in Lichtenfels, der unter https://vimeo.com/195914950 abrufbar ist.

„Es war für mich ein äußerst bewegender Moment, als ich ihr am 5. November 2018 den Führerschein zurückgeben durfte, der ihrem Vater im Dritten Reich abgenommen wurde“, so der Landrat. „Ich bin sehr glücklich und unendlich dankbar, dass Inge Stanton und ihre Familie zu uns gekommen sind und uns nach all dem, was der Familie Furchtbares widerfahren ist, die Hand der Versöhnung gereicht haben. Ihre Schilderungen und ihre Erinnerungen werden für uns immer gegenwärtig und eine Mahnung sein, dass so etwas bei uns nie wieder geschehen darf!“, betont Christian Meißner. „In diesen schweren Stunden des Abschieds sind unsere Gedanken bei ihren Angehörigen, denen ich im Namen des Kreistags und der Bürgerinnen und Bürger des Landkreises Lichtenfels unsere tiefste Anteilnahme übermitteln darf.“

Hintergrund zum Projekt „13 Führerscheine – Dreizehn jüdische Schicksale“: 
2017 war im Landratsamt Lichtenfels im Rahmen der Digitalisierung der Verwaltung ein alter Umschlag gefunden worden. In ihm befanden sich Führerscheine, die man 1938 im Zuständigkeitsbereich des Bezirksamtes Lichtenfels dreizehn jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern abgenommen hatte — teils bei deren Emigration, teils im Zusammenhang mit den Novemberpogromen. 

Landrat Christian Meißner regte an, dass Schülerinnen und Schüler anhand der Papiere ein Stück Lokalgeschichte aufarbeiten. Das Projektseminar zur Studienorientierung 2pg des Meranier-Gymnasiums Lichtenfels (MGL) begab sich 2018/2019 unter der Leitung von Studiendirektor Manfred BrösamIe-Lambrecht auf Spurensuche.

Was die Abiturientinnen und Abiturienten in aufwändiger Recherche herausgefunden haben, geht unter die Haut. Die jungen Leute haben es geschafft, die Schicksale der einstigen Führerscheininhaberinnen und -inhaber zu rekonstruieren. Sie haben den Namen jeweils ein Gesicht zurückgegeben. Fünf der Führerschein-lnhaber wurden ermordet, acht konnten noch rechtzeitig ins Ausland fliehen. Ihre Nachkommen haben die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in Nord- und Südamerika sowie in Israel gefunden. Eine dieser Nachkommen war Inge Stanton. 

Die einzelnen Schicksale der Führerscheininhaberinnen und -inhaber dokumentiert die Ausstellung „13 Führerscheine - dreizehn jüdische Schicksale“. Sie war inzwischen national und international zu sehen – unter anderem im deutschen Generalkonsulat und im Museum of Jewish Heritage in New York –und wurde mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet. Inzwischen ist ein Dokumentarfilm über das Projekt entstanden.

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Great mourning for Inge Stanton
With her, one of the last contemporary witnesses of the Nazi era died in Lichtenfels District Administrator Meißner: "We are grateful that she reached out to our district"

LICHTENFELS (08.02.2023). "She was an impressive personality who, despite the inconceivable injustice and suffering that happened to her and her family, had the kindness to forgive. I am very, very grateful that I was able to get to know her as part of the project '13 Driver's Licenses - Thirteen Jewish Lives‘ and that she reached out to our district," said District Administrator Christian Meißner on the occasion of the death of Inge Stanton, née Marx. She passed away on Tuesday night shortly after her 93rd birthday in the USA. 

Inge Stanton was originally from Lichtenfels and emigrated to the USA with her family as a result of the Nazi pogroms and the persecution of Jewish citizens during the Third Reich. She is one of the last contemporary witnesses of the Nazi dictatorship in our region.

She was born in Lichtenfels in 1930. Her parents were the Jewish merchant Alfred Marx and his wife Ellen, née Bamberger. The Marx family ran a trading business for skins, furs and butcher's supplies in the so-called Guthmann Villa at Bamberger Straße 19. Inge Stanton, who retained a crystal-clear moral judgment to the end, told of beautiful aspects of her childhood as well as of increasing discrimination and assaults by Nazi authorities and Nazi supporters. On the night of November 9-10, 1938, Nazi hordes attacked the family home. The children had to hide in the attic of the house under the protection of a non-Jewish tenant family from the violent, marauding Nazi supporters. Inge, as the oldest with her eight years, had to keep the other children quiet.

The family managed to flee from Germany in 1939, first to Great Britain and then, in April 1940, to the United States, where they were able to build a new existence with great difficulty. Inge had already visited Lichtenfels with her family in 1994 and 2016. The occasion for a real homecoming was then the project "13 Driver's Licenses - Thirteen Jewish Fates" of the Meranier High School in 2018, which was initiated in close cooperation with the Lichtenfels District Office.

As part of the project seminar "13 driver's licenses - thirteen Jewish Lives", the High School graduates of the class of 2018/19, together with seminar director Manfred Brösamle-Lambrecht, had gone on a search for traces of the Jewish citizens who had their driver's licenses taken away during the Third Reich. 


Beim Festakt zur Erцffnung der Ausstellung „13 Fьhrerscheine – dreizehn jьdische Schicksale“ am Meranier-Gymnasium Lichtenfels ьbergab Landrat C

At the opening ceremony of the exhibition "13 Driver's Licenses - Thirteen Jewish Lives" at the Meranier High School in Lichtenfels, District Administrator Christian Meißner presented Inge Stanton (center) with the documents that had been taken from her father. Also in the picture from the left are granddaughter Ellie and daughters Suzanne and Nancy. Photo: Lichtenfels District Office/Heidi Bauer

Among the documents found at the Lichtenfels district office was the driver's license of Inge's father, Alfred Marx. The students tracked down the family in the U.S., and Inge Stanton willingly helped reconstruct the family history with a wealth of materials and accurate memory. 

When she was 88 years of age she came with family members to the exhibition opening "13 Driver's Licenses. Thirteen Jewish Fates" in November 2018 and to the laying of couple of stones in Lichtenfels. She gave an impressive speech in which, on the one hand, she did not relativize what had happened and on the other hand, she expressed her willingness to live together in the face of a changed Germany. And she also practiced this: The connection, even friendship with many seminar participants did not break off until her death. Rachel Schlesinger, Inge's granddaughter, made a short film about Inge's first visit to Lichtenfels, which can be watched at https://vimeo.com/195914950.

"It was an extremely moving moment for me when I was able to give her back the driver's license (that was taken away from her father during the Third Reich) on November 5, 2018," said the District Administrator. "I am very happy and infinitely grateful that Inge Stanton and her family came to us and extended the hand of reconciliation after all the terrible things that happened to the family.

Their descriptions and their memories will always be present for us and a reminder that something like this must never happen again in our country!" emphasizes Christian Meißner. "In these difficult hours of parting, our thoughts are with their relatives, to whom I convey our deepest sympathy on behalf of the district council and the citizens of the Lichtenfels district."

Background to the project "13 Driver's Licenses - Thirteen Jewish Lives": 
In 2017, an old envelope had been found in the Lichtenfels District Office as part of the digitization of the administration. It contained driver's licenses that had been taken from thirteen Jewish citizens in 1938 in the area of responsibility of the Lichtenfels district office - partly during their emigration, partly in connection with the November pogroms.
 
District Administrator Christian Meißner suggested that students use the papers to work through a piece of local history. The project seminar for study orientation 2pg of the Meranier-Gymnasium Lichtenfels (MGL) went in 2018/2019 under the direction of director of studies Manfred BrösamIe-Lambrecht on a search for traces.

What the high school graduates found out through extensive research gets under the skin. The young people have managed to reconstruct the fates of the former driver's license holders. They have put a face back to each of the names. Five of the license holders were murdered, eight were able to flee abroad in time. The high school students found their descendants in North and South America as well as in Israel. One of these descendants was Inge Stanton. 
The individual fates of the driver's license holders are documented in the exhibition "13 Driver's Licenses - Thirteen Jewish Lives." It has since been shown nationally and internationally - including at the German Consulate General and the Museum of Jewish Heritage in New York - and has won a number of awards. In the meantime, a documentary film has been made about the project.
 


 



 

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